[Test] Mobileye – Nachrüstbares Fahrerassistenzsystem

by Paul Balzer on 27. Februar 2016

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Fahrerassistenzsysteme leisten seit einigen Jahren einen wesentlichen Beitrag zur aktiven Sicherheit im Straßenverkehr. Anders als passive Sicherheitssysteme (wie Airbag, Gurtstraffer usw.) versuchen sie Unfälle erst gar nicht entstehen zu lassen. Das ist gar nicht so leicht! Auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen, aber es gibt eine erschreckende Zahl: 90.

  • 90% aller Autofahrer_innen denken, sie sind gute Fahrer_innen
  • 90% aller Autofahrer_innen denken, andere sind schlechte Fahrer_innen
  • 90% aller Verkehrsunfälle sind auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen

Offensichtlich hat die Verkehrssicherheit ein großes Problem: Menschen werden schwer verletzt oder sterben, weil andere Menschen Fehler machen. Sei es, dass sie Geschwindigkeiten oder Abstände falsch einschätzen, dass sie mit der Fahrsituation überfordert sind oder das sie schlichtweg emotional reagieren und Verletzungen riskieren.

Neuwagen können mit einer großen Anzahl an Fahrerassistenzsysteme ausgestattet werden, bishin zu teilautomatisierten Fahrfunktionen. Der Weg zum selbstfahrenden Auto ist zwar noch lang, aber der Weg dahin wird beschritten. Nicht zuletzt die Versicherer machen Druck, denn Unfälle kosten Geld. Schön wäre es doch, wenn man auch ältere Fahrzeuge mit moderner Technik ausstatten könnte. Ein nachrüstbares System auf dem Markt ist das Mobileye Kamerasystem.

Nachfolgend ein kurzer, technischer Test des Systems aus Sicht eines Entwicklers.

Funktionsumfang Mobileye Fahrerassistenzsystem

Das Mobileye System ermöglicht mit Hilfe einer Videokamera, welche hinter der Frontscheibe angeklebt wird und einem Zugriff auf den Fahrzeug-CAN-Bus (Datenbus), verschiedene Assistenzsysteme. Das System schaut über die Kamera nach vorn und berechnet mit Fahrzeugdaten, ob eine Situation potentiell gefährlich werden kann. Es verarbeitet

  • Fahrzeuggeschwindigkeit
  • Bremslicht an (Bremsbetätigung)
  • Blinker an (Spurwechsel)

Außerdem versorgt es sich über das Fahrzeug-Bordnetz mit Spannung.

Damit realisiert Mobileye folgende Assistenzfunktionen:

  • Vorausschauende Kollisionswarnung (FCW)
  • Abstandsüberwachung und -warnung (HMW)
  • Fußgängerkollisionswarnung (PCW) mit Fahrradfahrererkennung
  • Spurhaltewarnung (LDW)
  • Verkehrsschilderkennung (TSR), inkl. Geschwindigkeitsbegrenzungsanzeige (SLI)

Test des Systems im innerstädtischen Verkehr

Alle Funktionen, außer der Verkehrsschild- und Geschwindigkeitserkennung, sind in folgender 5minütigen, innerstädtischen Testfahrt zu sehen.

Im Folgenden eine Einschätzung der Funktionsfähigkeit des Mobileye Systems, vor allem bezogen auf innerstädtischen Verkehr.

Vorausschauende Kollisionswarnung (FCW)

Passt die Fahrzeuggeschwindigkeit nicht zum Verkehr vor einem, wird eine Kollisionswarnung ausgegeben. Dies geschieht beispielsweise, wenn man auf ein stehendes Auto mit zu hoher Geschwindigkeit auffährt. Das System berechnet eine Time to Collision, also die Zeitlücke in Sekunden, die bleibt.

Rollt man – selbst mit geringer Geschwindigkeit – in Richtung eines stehenden Autos, so warnt das System über die drohende Kollision. Dies funktioniert zuverlässig und ist ein hilfreiches System. Anwendungsfälle beispielsweise, wenn man nach links schaut, um in einen Kreisverkehr einzufahren und das Fahrzeug vor einem bremst plötzlich ab.

Abstandsüberwachung und -warnung (HMW)

Ein Hauptgrund für Unfälle im Straßenverkehr ist der zu geringe Abstand zum Vordermann. Hier gilt die Regel “halber Tacho”. Das Mobileye hat vom CAN-Bus die Fahrzeuggeschwindigkeit \(v\) und über die Kamera schätzt es den Sicherheitsabstand \(s\). Damit ergibt sich eine Zeitlücke, welchen das System in ‘Sekunden’ anzeigt. Es ist die Zeit, die man fährt, bis man an der gleichen Stelle wie der Vordermann ist. Fährt man beispielsweise mit 50km/h auf 20m hinter einem Fahrzeug her, so ist die Lücke

\[t=\frac{s}{v}=\frac{20m}{50km/h}=1{,}4s\]

Dieses System zeigt einem gnadenlos, wie undiszipliniert man unterwegs ist. In den meisten Fällen fährt man zu dicht auf. Das System ist parametrierbar, ab welcher Zeitlücke es warnen soll. Wie im ersten Testvideo zu sehen ist, ist mein System auf “Warnung ab < 1,2s Sicherheitslücke” eingestellt, was genau genommen schon eine Unterschreitung der ‘halbe Tacho’-Regel ist.

Fußgängerkollisionswarnung (PCW) mit Fahrradfahrererkennung

Fußgänger-Erkennung und Radfahrer bzw. Motorradfahrer Erkennung im Videobild gehört zu den kompliziertesten Sachen, die man mit Videosensorik lösen kann. Die Silhouette ist doch recht uneindeutig. Mobileye hat das recht gut gelöst. Es werden nicht alle Radfahrer/Fußgänger/Motorradfahrer entdeckt, aber ein Großteil. Hierbei gibt es eine optische Warnung, sollten die Fußgänger vor das Auto laufen auch eine akustische.

Spurhaltewarnung (LDW)

Bei der Kalibrierung des Systems wird die Fahrzeugbreite eingegeben, daher weiß die Kamera, wann man eine Fahrspur überfährt. Wird dabei nicht geblinkt, warnt das System. Hierbei gibt es die üblichen Systemgrenzen. Eine schneebedeckte Fahrbahn hat einfach keine sichtbaren Fahrspurmarkierungen. Bei tiefstehender Sonne und nasser Fahrbahn ist die Spiegelung dominanter als die Markierung, auch hier wird es schwer eine Fahrspur zu erkennen. Gleiches gilt für Straßenbahnschienen oder ähnlich aussehendes. In den meisten Fällen funktioniert die Spurerkennung allerdings gut!

Verkehrsschilderkennung (TSR), inkl. Geschwindigkeitsbegrenzungsanzeige (SLI)

Dieses System soll darauf hinweisen, dass die gefahrene Geschwindigkeit höher ist, als erlaubt. Dabei hat das Mobileye System keine Verbindung zum Navigationsgerät oder Kartendaten. Das führt dazu, dass es die meisten Verkehrszeichen entdeckt und darauf hinweist, dass man zu schnell fährt. Leider sieht das System nicht, dass es zwischenzeitlich eine abgehende Straße gab und die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht mehr gilt. Auf Autobahnen gibt es das Verkehrszeichen “Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben”, innerorts nicht. Die Verkehrszeichenerkennung kann ausgestellt werden.

Sensorik: Mobileye Computer Vision System

Mobileye beschäftigt sich – gegründet aus dem universitären Umfeld – seit vielen Jahren mit Computer Vision. Die Monokamera als Sensor für Fahrerassistenzsysteme ist preislich unschlagbar, weshalb es auch als einer der ersten Sensoren für Fahrerassistenzsysteme Einzug in die Automotive-Branche gehalten hat. Was Mobileye in Sachen Objekterkennung und Algorithmen macht, ist aller oberste Liga, weltweit! Einen kleinen Einblick gibt der CEO von Mobileye in diesem Vortrag: Future of ComputerVision and Automated Driving.

Die Monokamera, welche 752x480px mit 60fps detektiert, ist einer von vielen möglichen Sensoren und hat Vor- und Nachteile. Siehe Fahrzeugumfeldsensorik.

Einbau des Systems

Mobileye rüstet zwar auch namenhafte OEM aus, darunter Tesla, Volvo, Citroen, BMW, bei dem hier getesteten System handelt es sicher allerdings um eine Nachrüstlösung und die muss nach dem Kauf in’s Fahrzeug gebaut werden. Das nachfolgende Video zeigt die Schritte.

Schön zu sehen auch die möglichen Konfigurationsschritte. Alle Grenzwerte/Parameter lassen sich einstellen.

Das System wird nur von Mobileye-Technikern installiert und sollte nicht selbst nachgerüstet werden. Es ist ein Zugriff auf den CAN-Bus sowie Zündungs-Plus notwendig, was bedeutet, dass man Verkleidung und Kabel demontieren muss und auch an’s Bordnetz löten.

Falsch Positiv Rate

Wenn man über Fahrerassistenzsysteme spricht, muss man über Falsch-Positiv Raten sprechen. Was ist das?

Man stelle sich vor ein Notbremsassistent ist an die Fahrzeugbremse gekoppelt und leitet eine Vollbremsung ein, wenn es ein Hindernis auf der Fahrspur detektiert. Man stelle sich weiterhin vor, man fährt mit dem Fahrzeug auf der Autobahn  eine leichte Kurve und das System identifiziert einen Brückenpfeiler als Hindernis und leitet eine Vollbremsung ein. Fatal! Das ist ein Falsch-Positiv Ereignis und muss möglichst vollständig vermieden werden. Dem gegenüber steht die Anforderung, dass möglichst alle tatsächlich auftretenden Hindernisse erkannt werden sollen. Rein von der Applikation her ein Spagat, der schwer zu erfüllen ist. Man muss immer abwägen. Je besser der Sensor ist, desto besser kann man die Anforderung erfüllen.

Die Automobilindustrie löst das Problem beispielsweise dadurch, dass der Abstand über ein Radar gemessen wird, eine Validierung der Information (ist da wirklich etwas?) kommt über eine Kamera. Zwei Sensoren, welche sich prima ergänzen, werden fusioniert. Mehr unter Fahrzeugumfeldsensorik – Überblick und Vergleich.

Das Mobileye System funktioniert nur rein optisch über eine Monokamera. Auch wenn die Detektionsraten beeindruckend sind, kann sich ein Falsch-Positiv ergeben.

Mobileye als OEM Lösung

Mobileye Systeme, welche direkt vom Hersteller eingesetzt werden und mit anderen Sensoren (z.B. Radar für richtige Abstands- und Geschwindigkeitsmessung) fusioniert werden, können hingegen sehr gute Ergebnisse erzielen. Als Beispiel sei der Tesla Autopilot genannt, welcher als einer der ersten hochautomatisiertes Fahren ermöglicht. Nachfolgend ein Video des Systems:

Fazit

Wir fahren das System jetzt 3 Monate zum Test, hauptsächlich im innerstädtischen Verkehr. Man fährt im allgemeinen so schlecht, dass es sehr oft akustisch warnt. Warnmeldungen für drohende Kollisionen, zu dichtes Auffahren, Spurverlassenswarnung und Geschwindigkeitsüberschreitung lassen sich dank “schlechter” Fahrweise ohne Probleme im Minutentakt erzeugen. Wir erinnern uns:

  • 90% aller Autofahrer_innen denken, sie sind gute Fahrer_innen

Nur mit sehr bedachter Fahrweise ist das System zufrieden. Falsch-Positiv Warnungen erscheinen allerdings trotz aus meiner Sicht korrekter Fahrweise. Dies lässt die Systemakzeptanz schwinden.

Verkehrserzieherisch positiv wirkt vor allem die Anzeige des Sicherheitsabstands, welchen man nach und nach so einhält, dass das Symbol grün bleibt.

mobileye_green


 

Disclaimer: Mobileye hat mir das System kostenlos zum Test zur Verfügung gestellt, welches ich am Ende des Testzeitraums zu einem reduzierten Kaufpreis erwerben kann.

 

6 Comments

  1. Toller Bericht, sehr aufschlussreich und informativ!

    Also großer Autofan interessiere ich mich schon länger mit FAS(=Fahrassistentensystem). In diesem Zusammenhang sind die am Anfang genannten Zahlen sehr erschreckend und schockierend.
    “90% aller Verkehrsunfälle sind auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen”

    Menschliche Fehler werden immer passieren, die kann man leider nicht abstellen. Aber man kann mit anderen Systeme auf diese Fehler reagieren, und versuchen einzugreifen um zu verhindern, dass was schlimmes passiert! Mit FAS würde sowas gehen, und es steckt viel Potential in solchen Systeme. Sie sind eine echte Bereicherung für den Straßenverkehr. Und man sollte viel mehr in FAS investieren und die Chancen, die für die Zukunft zu Grunde liegen, erkennen. Beispielsweise arbeitet BFFT auch an FAS, für die Optimierung und Integration der Systeme.

    Das Mobileeye finde ich sehr interessant, und der Funktionsumfang ist genau so umfassend wie spannend. Vielen Dank für den guten Beitrag.

  2. sehr gute Erklärung. Wo kann am ein solches nachrüstbares System erwerben und einbauen lassen?
    was kostet in etwa so ein Gerät mit Einbau ?
    Mit freundlichem Gruß, M.Klein

  3. Meiner Meinung nach sollte heutzutage kein Auto mehr ohne Fahrerassistenzsystem herumfahren dürfen. Klar das ist natürlich nur schwer durchzusetzen aber es wäre durchaus denkbar dass der Staat da vielleicht irgendwann mal eine Förderung anbietet.

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