Grenzprodukt der Arbeit: Fachkräftemangel für den Betriebswirt

by Paul Balzer on 4. Dezember 2012

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Es herrscht offensichtlich Fachkräftemangel wohin man schaut! Wahnsinn: Als Ingenieur, Arzt oder Informatiker ist man dieser Tage so begehrt wie ein Barren Gold, zumindest wenn man so in die offenen Trompeten der Arbeitgeberverbände oder arbeitgebernahen Institute blickt. Die Presse springt natürlich auf, lässt sich doch immer eine Statistik finden, die das belegt. Sitzt man dann aber mit genau diesen “Fachkräften” zusammen und unterhält sich, so wird irgendwie klar: Es kann kein Mangel herrschen, sonst würde sich keine Firma 3-5 Monate Zeit lassen, auf eine Bewerbung zu antworten. Ich sage nicht Zusagen – nein, überhaupt antworten.

Bild von flickr.com von INSM unter CC BY-ND 2.0 Lizenz

Man kann die Situation von vielen Seiten beleuchten und jeder zieht seine eigenen Statistiken aus dem Hut, die genau die eigene These belegen. So diskutieren die Experten auf dem Gebiet vortrefflich darüber, was nun wahr und falsch ist [1]. Als Außenstehender kann man es ohnehin nicht alles im Detail nachvollziehen. Aber eine Sache hat mich dann doch beschäftigt.

Volkswirtschaftslehre

Weil ich endlich mal verstehen wollte, wie das so alles funktioniert in so einem Staat und welche Zusammenhänge es gibt, habe ich mir ein Buch zu den Grundlagen der Makroökonomik angeschaut und eine durchaus interessante Entdeckung gemacht: Die Volkswirte wissen es auch nicht so genau. Es gibt ein paar Thesen, welche dann am realen Markt ausprobiert werden und wenn die Ergebnisse ungefähr mit der Vorhersage übereinstimmen und es kein anderer besser weiß, dann ist die These anerkannt und gilt. Wir Ingenieure rechnen ja geschlossen aus, ob eine Schraubverbindung oder eine Schweißnaht hält oder nicht – in vielen anderen Fachbereichen ist das alles nicht so eindeutig. Deshalb erlaube ich mir jetzt, obwohl ich selbst kein Volkswirt bin und auf ganz dünnem Eis argumentiere, mal darüber zu schreiben. Falls es jemand besser weiß: Bitte kommentieren.

System Arbeitsmarkt

Durch meine Tätigkeit als Ingenieur für Regelungstechnik habe ich nun doch ein bisschen Verständnis für “Systeme” im Allgemeinen. Ein Arbeitsmarkt ist auch ein System. Auf der einen Seite wird vom Arbeitgeber Arbeitslohn hinein gegeben und auf der anderen Seite kommt Leistung vom Arbeitnehmer für den Arbeitgeber hinaus. Zumindest aus Sicht des Arbeitnehmers. Eine längst vergessene Ansicht ist, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung anbietet und der Arbeitgeber dafür einen Preis zahlt, abhängig vom Angebot/Nachfrage-Marktprinzip. Das kennt jeder, es ist jede Woche die Begründung für die steigenden Kraftstoffpreise oder das teurer werdende Brot wenn die Ernte schlecht ausfiel. Der Reallohn (Wikipedia: Der Reallohn ist in der Volkswirtschaftslehre der Lohn, der der tatsächlichen Kaufkraft entspricht, das heißt der Gütermenge, die bei gegebenen Lebenshaltungskosten mit dem Nominallohn tatsächlich eingekauft werden kann.) hat sich in den letzten Jahren nicht einen Millimeter bewegt [2]. Auf dem Arbeitsmarkt soll das Angebot/Nachfrage-Prinzip aber ausgerechnet nicht gelten, so die Hornbläser des Fachkräftemangels.

Produktionsfunktion

Eine wichtige Kenngröße eines Unternehmens ist die Produktionsfunktion. Sie sagt dem Geschäftsführer bzw. Controller mit wie viel Arbeitseinsatz er welchen Ertrag für das Geschäftsmodell bekommt. Ich habe mich dazu entschlossen das Beispiel eines Postdienstleistungsunternehmens zu wählen, weil man das ganz leicht versteht. Es ist auch das Beispiel in der Wikipedia. Der Input eines Postunternehmens ist die Arbeitszeit in Stunden (L) und der Output ist über das Briefporto der Ertrag des Unternehmens. Beispielsweise wählt man folgende Produktionsfunktion:

f(L)=1200\cdot \sqrt{L}

Produktionsfunktion eines Postdienstleistungsunternehmens f(L)=1200*L^0.5

Man sieht also, dass mit steigender Arbeitsleistung der Ertrag auch steigt. Der Ertrag kommt durch das Briefporto von 0.25€ zustande und die Funktion ist nur zum besseren Verständnis so einfach. Ich denke, in realen Betrieben wird so eine Produktionsfunktion nicht so einfach darzustellen sein. Dennoch hilft es an dieser Stelle dem Verständnis.

Reallohn

Der Reallohn ist nun das Einkommen eines Haushalts bezogen auf die Kaufkraft. Steigt also das Einkommen genauso wie die Warenwerte, so ist der Reallohn konstant geblieben. Nimmt man für dieses einfache Beispiel nun an, dass für den Stundenlohn des Postangestellten auch gleich Briefporto gekauft werden soll, so ist der Reallohn des Angestellten gleich seinem Stundenlohn, bezogen auf die Portokosten.  Diese Portokosten sind wiederum eine Eingangsgröße für die Produktionsfunktion des Unternehmens, in dem er arbeitet.

Grenzprodukt der Arbeit

Das interessante an der Sache ist jetzt Folgendes: Leitet man die Produktionsfunktion des Unternehmens ab (Anstieg der Produktionsfunktion) und setzt diese dem Reallohn gleich, so kann man berechnen, welche Arbeitsnachfrage das Unternehmen hat. Denn man sieht, dass die Produktionsfunktion mit steigendem Input (Arbeitsstunden) nicht mehr so stark wächst, folglich nicht mehr so viel verdient wird, dass viel Briefporto nachgefragt wird von der Volkswirtschaft.

\cfrac{\mathrm df}{\mathrm dL}=\cfrac{600}{\sqrt{L}}

Bei einem Stundenlohn von 7.50€ und einem Briefporto von 0.25€ ergibt sich:

\cfrac{600}{\sqrt{L}}=\cfrac{7{,}50}{0{,}25}

Diese Gleichung kann man nun nach der Arbeitsnachfrage L umstellen und erhält L=400h. Grafisch sieht das nachfolgend aus.

Grenzprodukt der Arbeit bei gegebener Produktionsfunktion und Reallohn (7.50€/h und 0.25€ Preis)

Man sieht, dass die Ableitung der Produktionsfunktion (rot) unterhalb von 400h höher liegt als der Reallohn (grün), es sich somit für den Arbeitgeber lohnt weiteren Input (Arbeitsstunden) in seine Firma zu bringen. Oberhalb von 400h liegt die Ableitung der Produktionsfunktion unterhalb des Reallohns.

Ein Unternehmen würde solange neue Arbeitskräfte einstellen, bis der nächste zusätzliche Mitarbeiter keinen Gewinn mehr stiften würde. Dies ist der Fall, wenn das Grenzprodukt der Arbeit soweit gesunken ist, dass der zusätzliche Erlös gerade dem Lohnsatz entspricht. – N. Gregory Mankiw: Makroökonomie, (übersetzt von Klaus Dieter John). 2003, 5. Auflage, Schäffer-Poeschel; Seite 61

Variation der Parameter

Schaut man sich die Zusammenhänge an, so wird klar, welche Parameter ein Arbeitgeber nun wählen kann, um seinen Ertrag noch etwas höher zu bringen. Er kann z.B. den Stundenlohn auf 6.50€ senken, womit sich das Grenzprodukt der Arbeit auf über 530h erhöht hat.

Grenzprodukt der Arbeit bei gegebener Produktionsfunktion und reduziertem Lohn (6.50€/h und 0.25€ Preis)

Weiterhin kann er auch den Lohn konstant halten und den Preis erhöhen, das hat den gleichen Effekt. Oder er kann beides tun. Wem das jetzt bekannt vorkommt, der sollte sich auch mal ein Buch über Makroökonomie schnappen und etwas darin blättern, es ist nicht der einzige Zusammenhang der mich hat aufhorchen lassen.

Lobbying für mehr Fachkräfte

Was hat das alles jetzt mit dem Fachkräftemangel zu tun? Es ist ganz einfach: Wir haben in Zukunft keine Aufgaben mehr für unterdurchschnittlich begabte Köpfe. Alles was “noch zu tun ist” in Deutschland ist echt kompliziert. Das ist nicht von ungelernten oder Hilfskräften zu erledigen, sondern von Leuten, die echt Spezialwissen haben. Demnach sagen sich diese Köpfe: “Ich arbeite nicht für 1200€ Netto. Lieber Arbeitgeber, wenn du das gemacht haben möchtest, dann bezahl mich ordentlich.”

Der Arbeitgeber steckt nun im Dilemma: Das Grenzprodukt der Arbeit ist zu dem geforderten Lohn erreicht. Selbst wenn er diesen klugen Kopf einstellt und er das fertig bekommt und alles super läuft hat er keinen einzigen Euro damit verdient. Was bleibt dem Arbeitgeber? Er macht mobil, wo er nur kann: Er veröffentlicht Stellen, die gar nicht besetzt werden sollen, er multipliziert offene Stellen mit dem Faktor 7 und lässt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft seriöse Studien erstellen, die das Thema untermauern. Die Politik springt auf, allen voran die FDP. Es wird geworben, es werden Green- und Bluecards vergeben, die Grenzen werden geöffnet, die Gehaltsgrenzen für ausländische Fachkräfte auf 30.000€ Jahresbrutto runter gesetzt [3].

Denn es ist eben doch ein Markt. Der Arbeitsmarkt eben. Wenn mehr Personen zur Verfügung stehen, die sich auf einen Job bewerben (und es können), so muss automatisch der Lohn sinken, der dafür bezahlt werden wird.

Disclaimer

Es ist mit Sicherheit nicht alles so einfach, wie hier beschrieben, denn gerade mittelständische Unternehmen haben tatsächlich das Problem, dass sich niemand bei ihnen bewirbt, weil sie medial nicht aus dem Schatten von Großkonzernen heraustreten können. Das ist aber ein anderes Thema. Hier geht es mir nur um das systematische Nachplappern von Presse, Politik und Gesellschaft, wenn das Wort Fachkräftemangel fällt. Es kann einfach nicht stimmen.

Quellen

[1] Streitgespräch zwischen Karl Brenke, Arbeitsmarktforscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin und Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln unter: http://www.heise.de/tr/artikel/An-der-Realitaet-vorbei-1226818.html

[2] DIW Wochenbericht: Reallöhne 2000–2010: Ein Jahrzehnt ohne Zuwachs unter http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.388565.de/11-45.pdf

[3] Morlok fordert Zuwanderungsreform und warnt vor zunehmendem Fachkräftemangel Online beim SMWA Sachsen

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